Benjamin Myers hat mit „Offene See“ eine wundervoll poetische Geschichte über eine ganz besondere Freundschaft geschrieben: England 1946. Der 16jährige Robert ist im industriellen Norden des Landes aufgewachsen und hat gerade erst die Schule beendet. Er weiß, was ihn von nun an erwartet: ein Leben im Bergwerk. Denn schon sein Vater und sein Großvater haben unter Tage gearbeitet. Doch bevor er in die Arbeitswelt eintaucht, möchte er sich noch einen großen Wunsch erfüllen: einmal das Meer sehen. Und so mach er sich auf den Weg Richtung Süden zur Küste.
Auf seiner Reise kommt er durch Zufall an einem Cottage vorbei. Hier lebt eine alte Dame mit Namen Dulcie gemeinsam mit ihrem Hund Butler. Sie gewährt dem Jungen Obdach und bekocht ihn reichlich. Dafür will sich Robert mit Handwerks- und Gartenarbeit arrangieren. Und so ziehen die Tage auf einmal dahin, ohne dass Robert bisher zur See gekommen ist.
Der Junge ist völlig fasziniert von Dulcies Leben und Charakter. Die alte Dame lebt ganz allein, unangepasst, etwas verschroben, aber unheimlich liebenswürdig, pragmatisch und direkt. Sie eröffnet Robert eine ganz neue Welt und gibt ihm Denkanstöße, die er zuvor nie hatte. Sie animiert ihn, herauszufinden, wer er ist und was er im Leben möchte. Dagegen merkt Robert, dass Dulcie etwas wichtiges in ihrem Leben verdrängt hat und hilft ihr dabei, dies zu verarbeiten.
Benjamin Myers Roman strotzt nur so vor bildhafter Sprache, detailverliebten Landschaftsbeschreibungen und einer einfühlsamen Zeichnung seiner beiden Protagonisten. Die beiden – ganz auf ihre eigene Art – verlorenen Seelen sind jeweils der Rettungsanker für den anderen. Robert hilft Dulcie, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Währenddessen zeigt die erfahrene Frau dem Jungen, was für Möglichkeiten ihm im Leben offen stehen.
„Offene See“ ist ein ruhiges Buch, das eine wundervolle Atmosphäre kreiert. Es ist ein Buch über Freundschaft, über Verlust, über die Liebe zur Literatur und über Zukunftsperspektiven. Ein zauberhaften Roman, der einen ganz ergreift und den ich fast in einem Zug durchlesen musste. So sehr haben mich die beiden Charaktere von Benjamin Myers in ihren Bann gezogen.
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