Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens

Die japanische Autorin Sayaka Murata hat in den letzten Jahren mit ihren beiden Romanen „Die Ladenhüterin“ und „Das Seidenraupenzimmer“ für Aufsehen gesorgt. Nun ist im Aufbau Verlag ein Band mit Kurzgeschichten von Murata erschienen, für den die Autorin in ihrem Heimatland wohl sehr bekannt ist. „Zeremonie des Lebens“ besteht aus zwölf phantasievollen, zum Teil aber auch skurrilen Kurzgeschichten. Übersetzt wurden diese von Ursula Gräfe.

Die meisten der Geschichten drehen sich um weibliche Charaktere und Themen wie Familie, Identität, Beziehungen, Individualität und Zugehörigkeit. Die Geschichten variieren in Ton und Setting – von düster-komisch und futuristisch über mutig und feministisch bis hin zu dystopisch und doch unangenehm sentimental. Obwohl einige Geschichten etwas verstörend sind, ist die Sammlung fesselnd und spannend, und Murata treibt ihre Vorstellungskraft (und die des Lesers) bis an die äußersten Grenzen – und verwischt dabei die Unterscheidung zwischen normal und abnormal.

Zwölf Kurzgeschichten über Familien, Identität und Essen

So handelt die erste Geschichte „Ein herrliches Material“ zum Beispiel von einer Zukunft, in der Kleidung, Möbelstücke und vieles mehr aus menschlichen Überresten gefertigt werden. Zum Beispiel trägt die Protagonistin gleich zu Beginn der Story ihren Lieblingspullover aus Menschenhaar. Ihr Verlobter dagegen hat eine starke Abneigung gegen diese Verwendung von menschlichem Material. Er findet es abstoßend und gruselig – bis seine Mutter ihnen vor der Hochzeit einen Schleider schenkt, der aus der Haut des verstorbenen Vaters des Bräutigams ist.

Ähnlich geht es auch in der Titelstory „Zeremonie des Lebens“ zu. Hier steht die Tradition im Vordergrund, dass nach dem Ableben eines Menschen ein Fest zu seiner Ehre gefeiert wird. Dabei werden alle Verwandten, Bekannten und Freunde eingeladen zu einem Festschmaus – bestehend aus den Überresten des Verstorbenen. Nachdem sich die Gäste den Toten einverleibt haben, kommt es zu Paarungsritualen. So soll die Lebensessenz des Verstorbenen zunächst an die Gemeinde und dann an die künftige Generation weitergegeben werden.

Interessant fand ich auch die Erzählung „Ein wunderbarer Esstisch“ von Sayaka Murata, in der es um zwei Schwestern geht, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine ist verheiratet und ernährt sich mit ihren Mann strikt mittels „Superfoods“, die online bestellt werden. Alles besteht nur aus Pulvern und Tütchen. Organisches Essen gibt es in ihrem Haushalt nicht mehr. Die andere Schwester hat sich dagegen frisch verlobt und soll ein Festmahl für ihre künftigen Schwiegereltern zaubern. Diese Schwester dagegen glaubt, aus einem märchenhaften Land zu kommen und bereitet zahlreiche Phantasiespeisen nach ihrem eigenen Rezepten zu. Essenz der Geschichte ist es, dass Essen zwar ein verbindender Faktor sein kann. Aber uns auch Toleranz lehrt und uns dazu bringt, im wahrsten Sinne des Wortes, über den Tellerrand hinaus zu schauen.

Die essbare Stadt

Ebenfalls mit dem Thema Ernährung setzt sich die Story „Die essbare Stadt“ auseinander. Hier beschreibt Sayaka Murata eine junge Frau, die sich nach der Küche ihrer Kindheit sehnt. Da sie aber inzwischen in einer großen Stadt lebt, ist es schwer an gutes, frisches Gemüse wie auf dem Land zu kommen. Stattdessen fängt sie an Wildpflanzen, Kräuter und ähnliches zu Sammeln und daraus neue Gerichte zu zaubern.

„Die Menschen hatten es einfach noch nicht gemerkt. Die Erinnerung an das Leben in der Wildnis, die in unseren Körpern wohnte, würde sofort wieder aufleben, wenn sie es nur einmal versuchten, und sie würden begreifen, wie natürlich es war, sich auf diese Weise von der Stadt zu ernähren und ihren Körper mit der Erde in den Ritzen zwischen dem Beton zu verbinden, aber es probierte ja keiner.“

Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens

Die Idee hinter der letzten Geschichte “Ausgebrütet” mochte ich ebenfalls sehr gerne. Hier widmet sich Sayaka Murata dem Konzept der Zugehörigkeit und des Sich-Einfügens, aber auch der Suche nach der eigenen Identität. Eine Frau, die verschiedene Persönlichkeiten annimmt, um sich in ihrem privaten und beruflichen Leben in verschiedene “Gemeinschaften” einzufügen, hat kurz vor ihrer Hochzeit Schwierigkeiten, ihr wahres Ich zu erkennen. Bei der geplanten Feier treffen auf einmal ihre verschiedenen Freundeskreise auseinander. In jedem davon hat sie eine andere Rolle eingenommen. Mal ist sie die „Prinzessin“, mal die Burschikose und dann wieder ganz mysteriös. Als sie versucht, sich ihren Zukünftigen zu offenbaren ist dieser völlig überfordert von den multiplen Persönlichkeiten seiner Liebsten.

Sayaka Murata zwischen skurril und faszinierend

Gerade diese letzte Geschichte mochte ich sehr gerne. Denn ich habe mich schon öfter mal mit Freunden darüber unterhalten, ob man seinen Charakter je nach Umfeld anpasst oder nicht. Hat man das „Büro-Ich“, das immer auf der Arbeit hervortritt? Oder doch das Familien-Ich oder das Urlaubs-Ich? Meiner Meinung nach ist da schon ein Funken Wahrheit dran, auch wenn es sicherlich nicht ganz so extrem ist, wie in dem Fall von Sayaka Muratas Protagonistin.

„Zeremonie des Lebens“ war bisher mein erstes Buch von Murata. Obwohl ich den Schreibstil und die Kreativität der Autorin bewundere und mir die Intention und die Botschaften zum Teil es gut gefallen haben, (zum Teil waren sie aber auch sehr skurril), hat mich diese Sammlung von Geschichten noch nicht ganz umgehauen. Das kann aber auch daran liegen, dass ich mich mit Kurzgeschichten oft etwas schwer tue. Die beiden Bestseller-Romane von Sayaka Murata bleiben aber dennoch auf meiner Wunschliste stehen und ich werde hoffentlich bald noch einmal in ihre Erzählwelt abtauchen.

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