Der Penguin Verlag hat mit „Ferne Gestade“ einen weiteren Roman des letzten Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah herausgegeben. Dieser ist nicht ganz neu, denn er erschien bereits 2001 unter dem Titel „By the Sea“ und wurde kurz danach auch auf Deutsch herausgegeben. Weil diese Ausgabe aber schon lange vergriffen ist, folgte nach dem großen Preis nun die neue Übersetzung.
Gurnah spannt in dieser Familiengeschichte den Bogen zwischen London und seinem Heimatland Sansibar: Am Flughafen Gatwick triff am 23. November 1993 ein älterer Herr aus Afrika ein. Er hat kein Visum. Scheint kein Englisch zu sprechen. Und – wie wir später erfahren – auch der Pass ist nicht sein eigener: „Ich heiße Rajab Shaaban. Das ist nicht mein richtiger Name, sondern der eines anderen, den ich mir für die Reise zur Rettung meines Lebens ausgeliehen habe.“ Der Mann hat beschlossen, Asyl in England zu beantragen.
Nachdem der Zollbeamte sein wertvollstes Mitbringsel , ein Mahagonikästchen mit einem besonderen Weihrauch, „konfisziert“, werden die Hebel der Einwanderungs- und Asylbehörde in Bewegung gesetzt. Der angebliche Rajab Shaaban kommt in eine heruntergekommene Unterkunft einer Hilfsorganisation. Man versucht einen Dolmetscher zu organisieren, damit dem Mann geholfen werden kann. Doch dann kommt raus: eigentlich spricht er fließend Englisch und hat sich nur verstellt, um Hilfe zu erhalten.
Doch da war der Dolmetscher Latif Mahmud bereits angefragt. Er ist eigentlich Literaturdozent an der University of London, stammt aber ursprünglich auch aus Sansibar. Und er fällt aus allen Wolken, als er den Namen des Flüchtlings erfährt. Denn Rajab Shaaban ist der Name seines verstorbenen Vaters.
Ferne Gestade – Familiengeschichte über Rache, Verlust und Neid
Schließlich kommt es zum Treffen der beiden Männer. Es stellt sich heraus, dass die Leben der beiden eng verwoben sind. Der ältere Herr ist ein entfernter Verwandter des Dolmetschers. Die Familie hatte sich einst über einen Kredit verstritten. Der Dolmetscher Latif bekam als Jugendlicher die Chance Sansibar mit einem Stipendium zu verlassen und in der DDR Medizin zu studieren. Von dort floh er schließlich über die Grenze und landete über Umwege in London.
Der ältere Herr – dessen eigentlicher Name Saleh Omar ist – hatte hingegen ein gutes Leben in Sansibar. Er besaß ein Geschäft, das gut lief, eine Frau, die er liebte und die ihm schließlich eine Tochter gebar. Doch auf dem Höhepunkt seines Lebens eskaliert der Streit zwischen den entfernten Verwandten über einen Kredit und die Verpfändung eines Hauses. Daraufhin rächt sich die Familie des Dolmetscher an ihm und stürzt ihn ins Unglück.
Abdulrazak Gurnah zeichnet mit „Ferne Gestade“ eine komplexe Familiengeschichte. Durch zahlreiche Rückblicke und verschiedene Erzählperspektiven fügt er nach und nach die Details der zerstrittenen Verwandten zusammen. So ergibt sich eine tragische Story um Betrug, Neid, Rache und politische Willkür und Verlust.
Gurnah stellt „Einwanderer“ damals und heute gegenüber
Neben der Familienfehde ist der Kolonialismus in Ostafrika eine große Thematik in „Ferne Gestade“. Die Gegensätze könnten nicht krasser sein: Zum einen die britischen und deutschen Besetzer, die sich völlig selbstverständlich in ihrer neuen Heimat niederlassen und dort erst das Sagen übernehmen und das Land dann mit ihrem Abzug ins Chaos stürzen. Auf der anderen Seite der afrikanische Flüchtling, dem auch sein letzter wertvoller Gegenstand genommen wird und in eine schäbige Unterkunft gesteckt wird.
„Wir waren Europäer. Wir konnten uns in der Welt niederlassen, wo immer wir es wünschten. Sie meinen: warum entschlossen wir uns, nach Kenia auszuwandern und anderen Menschen das wegzunehmen, was ihnen gehörte, es fortan unser Eigentum zu bezeichnen und uns mit Falschheit und Gewalt zu bereichern. Sogar zu kämpfen und zu schänden für das, was uns nicht zustand. […] Nun, weil wir in einer Zeit lebten, in der wir davon überzeugt waren, dass wir auf all das ein Recht hatten, ein Anrecht auf Orte und Gegenden, an denen nur Leute mit dunkler Haut und Kraushaar lebten. Das war der eigentliche Sinn des Kolonialismus, und man tat zugleich alles dafür, dass wir die Methoden nicht bemerkten, die es uns ermöglichten, uns an einem Ort unserer Wahl anzusiedeln.“
Abdulrazak Gurnah: Ferne Gestade
Abdulrazak Gurnah zeigt in „Fernde Gestade“, dass hinter jedem Einwanderer und Flüchtling, aber auch jedem Familienmitglied eine individuelle Geschichte steckt. Es gibt immer zwei Perspektiven zu einer Story – und die beiden Protagonisten versuchen sich hier mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen und Buße zu tun. Aber Gurnah erinnert er uns, dass viele der kolonialen Verbrechen noch nicht aufgearbeitet sind und wir heutzutage immer noch nicht mit gleichem Maß messen, wenn es um Einwanderer geht.
Es ist ein umfassender Erzählkosmos, den Gurnah aufspannt und der uns in das bunte trubelige Sansibar als Meltingpot zahlreicher Kulturen und Religionen zieht und diesen gegen das spröde, hektische London stellt. Mein einziger Kritikpunkt an der Geschichte wäre, dass zunächst eine Kulisse über die Einwanderung aufgebaut wird mit zahlreichen Namen und Charakteren und Kulissen, die letztendlich für die Handlung nicht wirklich ausschlaggebend sind. Natürlich wollte Gurnah hier deutlich machen, dass ein Mann, der seine Stimme und sein Schicksal als verloren angesehen hat, dieses nun langsam zurückgewinnt. Aber vor den doch sehr komplexen Rückblicken und Puzzelstücken der Vergangenheit bleibt dieser Einstieg doch etwas losgelöst vom Rest der Handlung stehen.
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