Atemschaukel Müller Buchlingreport

Herta Müller: Atemschaukel

2009 erhielt Herta Müller den Literaturnobelpreis. Im selben Jahr erschien ihr Roman Atemschaukel. Darin schildert die aus Rumänien stammende Autorin die fiktive Biografie des siebzehnjährigen Leopold Auberg. Dieser zählte zu den „Siebenbürger Sachsen“, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit verschleppt wurden. Reparationsleistung nannte man das damals. Ca. 30.000 Menschen wurden „eingezogen“; Männer sowie Frauen. Der Rest, der daheim bleiben durfte, wurde enteignet und musste sich heftiger Diskriminierungen aussetzen.

Ursprünglich plante Herta Müller die Geschichte gemeinsam mit dem Dichter Oskar Pastior gemeinsam zu schreiben. Dieser war – wie Müllers Mutter – fünf Jahre lang als Zwangsarbeiter in einem sowjetischen Lager. Doch 2006 verstarb Pastior. Müller nutzte aber die vielen Gesprächsnotizen von Pastior als Grundlage ihres Romans. Und so sind es natürlich überwiegend Pastiors Erinnerungen, die sich in der Geschichte um Leopold Auberg widerspiegeln.

Im Januar 1945 wird der junge Mann nachts von den Soldaten eingesammelt. Anfangs noch jung, dumm und naiv freut er sich, aus Hermannstadt fortzukommen. Dort, wo er als Homosexueller in ständiger Angst davor lebt, entdeckt zu werden. Denn diese Enttarnung wäre hart bestraft worden damals.

Doch schnell wird dem Auberg klar, dass dieses Lagerleben kein Spaziergang wird. Eingepfercht mit zahlreichen anderen Zwangsarbeitern beginnt die Reise im Viehwagon, zwei Wochen auf der Reise ins Lager. Und auch vor Ort sieht die Lage nicht besser aus. Das Leben besteht aus schwerer Arbeit, wenig Essen, Betteln und Schlaf. Ansonsten versuchen die Lager-Insassen nicht aufzufallen, um nicht weiter bestraft zu werden.

Der Mächtigste im Lager ist aber nicht der Lagerleiter – sondern der Hunger! Er unterwirft alle Insassen. Ist ihr „Herrscher. Allgegenwärtig. Immer drohend. Omnipräsent. So präsent und beherrschend ist er, das Müller ihn als eigene „Person“ auftreten lässt: Der Hungerengel. Der eigentliche Leiter und Kommandant im Lager:

Immer ist der Hunger da. Weil er da ist, kommt er, wann er will und wie er will. Das Kausale Prinzip ist Machwerk des Hungerengels. Wenn er kommt, dann kommt er stark.

Der Hungerengel sucht Auberg und seine Mithäftlinge permanent heim. In der Not wird untereinander das Brot ausgetauscht, in der Hoffnung, dass man am Schluss ein minimal größeres Stück erhält. Oder man erzählt sich Rezepte, die Abends ausgezählt werden. Halb als Witz, da man weiß, dass man das tolle Essen nicht bekommen wird; halb bilden sich die Zwangsarbeiter ein, durch das Zuhören satt zu werden. Doch meist bleibt nicht viel anderes übrig, als Kräuter, Gras oder Sand vom Wegesrand zu essen:

Der Hungerengel denkt richtig, fehlt nie, geht nicht weg, kommt aber wieder, hat seine Richtung und kennt meine Grenzen, weiß meine Herkunft und seine Wirkung, geht offenen Auges einseitig, gibt seine Existenz immer zu, ist ekelhaft persönlich, hat einen durchsichtigen Schlag, ist Experte für Meldekraut, Zucker und Salz, Läuse und Heimweh, hat Wasser im Bauch und in den Beinen.

Stärker als der Hunger ist vielleicht nur das Heimweg! Die Sehnsucht nach der Familie und der Heimat, das hält alle am Leben.

Neben dem Hungerengel kreiiert Herta Müller noch viele weitere eigene Wörter, um Leopolds Geschichte Sprache zu verleihen, so wie auch der Titel Atemschaukel oder der Begriff Herzschaufel. Dagegen stehen die akribischen Beschreibungen der Zwangsarbeit im Lager: 1 Schaufelhub verbraucht 1 Gramm Brot. Alles wird ganz genau festgehalten, addiert, beschrieben. Und wenn das Brot ausgeht, dann bleibt immer noch die Sprache. Dann werden Heimatlieder gesungen gegen das Heimweg. Oder Kochrezepte werden wie Witze erzählt, bei denen man die Zutaten förmlich auf der Zunge schmecken kann und sich so vom Hunger ablenkt.

Schnell wird klar, dass Atemschaukel kein einfacher Roman ist, den man mal eben nebenbei wegliest zur Unterhaltung. Vielmehr fühlt man sich in die beklemmende Welt Leopolds ein, empfindet seine Angst, sein Heimweh, seinen Hunger und leidet mit ihm und den anderen Gefangenen mit. Durch Herta Müllers Sprache wird dies noch intensiviert. Vielmehr wird die Sprache für die Insassen zum letzten Halt in ihrem düsteren Gefangenendasein. Ein tiefgreifendes, tragisch-trauriges und zugleich unheimlich poetisches Buch!

 

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