Yann Martel: Die hohen Berge Portugals

Spätestens seit der Oscarprämierten Verfilmung seines Romans „Schiffbruch mit Tiger“ ist Yann Martel wohl allen ein Begriff. 15 Jahre nach Erscheinen seines Bestsellers, präsentiert Martel nun sein neuestes Werk „Die hohen Berge Portugals“. Und genau wie bei Pi Patels Schicksal müssen auch hier die Hauptcharaktere sich wieder mit dem Tod, dem Verlust und der Religion auseinandersetzen.

Das Buch besteht aus drei Novellen, die zunächst als einzelne Geschichten wirken und in sich abgeschlossen sind. Aber beim Lesen erschließen sich nach und nach immer mehr Verbindungen zwischen den Charaktere und ihren Schicksalen.

Heimatlos
Lisabon, 1904. Museumskurator Tomás hat alles verloren, das ihm wichtig war. Innerhalb weniger Tage sterben sein Vater, seine Geliebte und sein Sohn. Er verflucht Gott, dass er ihm solch ein Schicksal aufbürdet und weiß eigentlich gar nicht mehr, wie er weitermachen soll mit seinem Leben. So beschließt er, ab dem Tag der Beerdigungen nur noch rückwärts zu laufen. Herrlich skurril beschreibt Martell, die angeblichen Vorteile des Rückwärtsganges und setzt dies gegen die eigentliche Verzweiflung seines Protagonisten.

Denn das einzige, was Tomás dann doch noch zum Weitermachen antreibt, ist das Tagebuch eines Priesters, das er bei seiner Museumsarbeit entdeckt. Nach der Lektüre des bewegten Leben dieses Mannes, macht sich Tomás auf den Weg, um ein Kruzifix, dass der Priester gefertigt hat, zu finden. Es soll irgendwo in den hohen Bergen Portugals sein. Also begibt sich Tomás auf Expedition – in einem der ersten Automobile, das ihm sein Onkel leiht. Was zunächst noch witzig ist, weil Tomás völlig überfordert ist mit dem motorisierten Monstrum, driftet leider schnell ab in detaillverliebte Einzelheiten über das Automobil, wie es funktioniert, betrieben und repariert wird – das eigentliche Abenteuer scheint irgendwie auf der Strecke verloren gegangen zu sein…

Heimwärts
Braganca, Silvesterabend 1938. Pathologe Eusebio Lozora wird von seiner Frau Maria während einer Autopsie gestört. Was folgt ist ein langer Vortrag Marias – und mein persönlicher Lieblingsteil des Buchs – über die Gemeinsamkeiten zwischen Jesus und seinen Aposteln und Agatha Christies Krimis:

„Die Welt der Evangelien ist eine schonungslose Welt. […] Die Welt von Agatha Christie ist genauso schonungslos.“

Kaum ist das merkwürdige Gespräch mit seiner Frau beendet, steht die nächste Maria vor der Tür: Eine Dame mit einem Koffer – in dem sie den Leichnam ihres Mannes transportiert. Sie möchte, dass Eusebio die Leiche obduziert und herausfindet, wie der Mann gelebt(!) hat – nicht wie er gestorben ist. Was dann zum Vorschein kommt, ist unbegreiflich – und nimmt uns von der rationalen, medizinischen Welt des Doktors mit in eine völlig surreale, die ein wenig an Gabriel Garcia Marquez erinnert.

Heimat
Toronto, 1981. Der kanadische Senator Peter Tovy verliert seine geliebte Frau Clara. Nach ihrem Tod wird Peter lethargisch, hat keinen Antrieb mehr. Trotzdem lässt er sich überreden, einen Kurzurlaub in Oklahoma zu machen, wo ihn der Zufall zu einem Institut für Primatenforschung bringt. Dort stellt er eine Verbindung zu einem der eingesperrten Schimpansen, Odo, her und lässt sich aus einem Impuls hinreißen, den Menschenaffen zu befreien und dem Institut abzukaufen. Aber wohin mit einem riesigen Affen? Peter beschließt mit Odo nach Portugal zu gehen und sich dort auf die Spuren seiner Vorfahren zu machen.

Alle drei Geschichten werden am Schluss durch die Entdeckung von Peters Verwandten zusammengefügt und auch weitere Motive verbinden die drei Handlungen. Was der Leser daraus macht ist hier, mehr als bei manch anderem Buch, eigene Interpretationssache. Das große Ganze erschließt sich nicht auf den ersten Augenblick und ich kann verstehen, warum viele Rezensionen von frustrierten Leser zu diesem Buch zu finden sind. Auch ich habe mich nach dem Zuklappen der Buchdeckel gefragt, was ich hier eigentlich grade gelesen habe. Und ich fürchte, das ist es auch, was Yann Martels Roman zu einem Stück nur für Liebhaber macht. Es ist definitiv keine leichte Sommerlektüre, die man danach gut unterhalten ins Regal stellt. Martel selbst sagte in einem Interview mit dem NDR:

„Aus an die 97 Kapiteln wurden sehr schnell drei separate Geschichten. Für mich ist es dennoch ein durchgängiger Roman, ein Roman in Palimpsesten. Also Überlagerungen, unter denen die vorherigen Dinge noch zu erkennen sind. Aber drei getrennte Teile, und jeder mit einem deutlich anderen emotionalen Ton. Vereinfacht gesagt: Teil eins könnte für Atheismus stehen, Teil zwei für Agnostizismus und Teil drei für Theismus. Ich stelle immer gern Gegensätze her. Bei „Schiffbruch mit Tiger“ waren das Zoologie und Theologie. Hier stelle ich mehrere Dinge einander gegenüber, aber am besten gefällt mir Agatha Christie im Vergleich mit den Evangelisten.“ (Quelle: www.ndr.de)

Der Vergleich mit Agatha Christie war auch meine Lieblingsstelle in dem Buch. An vielen anderen Stellen fand ich Martels Beschreibungen leider viel zu detailliert. Besonders bei allem rund um Tomás´ Automobil. Das war irgendwann ziemlich nervig. Bewundernswert finde ich dafür aber die schönen Allegorien und bildhaften Vergleiche. Hier nur mal ein Beispiel:

Die Einsamkeit stellt sich bei ihm ein wie ein Hund, der kommt und an ihm schnüffelt. Der Hund bedrängt ihn. Mit einer Handbewegung will er ihn verscheuchen, aber er lässt ihm keine Ruhe.

Schön fand ich als Leseratte auch die zahlreichen Buchvergleiche:

Jeder tote Leib ist ein Buch, das eine Geschichte zu erzählen hat, jedes Organ ein Kapitel, die Kapitel zusammengehalten durch das was sie erzählen.

Diese wundervolle Sprache hat mich auf jeden Fall begeistert. Und über den Inhalt des Buches? – Ich glaube, über den werde ich noch eine Weile grübeln. Denn so schnell werden mich diese verwobenen Geschichten nicht loslassen. Wer aber auch der Suche nach schneller Lesefreude ist, der sollte vielleicht lieber einen Bogen um das Buch machen.

 

 

Vielen Dank an den Fischer Verlag für das Rezensionsexemplar!

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