1000 serpentinen angst

Olivia Wenzel: 1000 serpentinen angst

Mein Herz ist ein Automat aus Blech.

S. 9

Aha, ok, gut! Oder doch “hä”? Der erste Satz in Olivia Wenzels “1000 serpentinen angst” lässt mich erstmal ein bisschen verduzt die Augenbrauen hochziehen. Die Protagonistin möchte also am liebsten in einen Snackautomaten auf einem Bahnsteig kriechen. Merkwürdig interessant und irgendwie auch ein bisschen schräg. Genauso geht es dann auch weiter.

Da wäre vor allem die außergewöhnliche Erzählform, denn große Teile des Romans sind im Interviewstil geschrieben:

WO BIST DU JETZT?
Ich bin eben gelandet, niemand hat geklatscht….draußen sieht es kalt aus.
HAST DU LEBENSMITTEL DABEI?
Nein.

S. 39

Außerdem gibt es keinen chronologischen Erzählstrang, sondern es werden sprunghaft verschiedene Szenen aneinandergereiht, sodass sich die Geschichte bzw. das Gesamtbild erst nach und nach wie ein Mosaik zusammenfügt.

Worum geht es eigentlich?

Die Protagonistin, Mitte 30, hat viele Baustellen. Aufgewachsen in der DDR als Tochter einer Punkerin und eines farbigen Vaters aus Angola, hat sie seit ihrer Kindheit mit rassistischen Anfeindungen zu kämpfen. Überhaupt ist ihre Familie alles andere als intakt. Mit 19 Jahren hat ihr Zwillingsbruder Selbstmord begangen. Die Geschwister waren zusammen am Bahnhof, während sie noch schnell zum Snackautomaten gegangen ist, sprang er vor einen Zug. Das erklärt auch die immer wiederkehrenden Textstellen mit dem Automaten am Bahnhof. Sie ist von diesem Ereignis nachhaltig traumatisiert und hat jahrelang Angstzustände sowie Schuldgefühle. Innerlich redet sie hin und wieder mit ihrem Bruder und versucht zu verstehen, warum er so gehandelt hat.

okay. und was mache ich hier?
du bist seit 12 Jahren tot.
ja?
ja.
warum?
weil du es so wolltest.
warum?
weil es dir schlechtging.
warum?

S. 110

Während sie dieses Trauma zu verarbeiten hat, muss sie auch mit der schlechten Beziehung zu ihrer Mutter klarkommen. Bereits in der Kindheit verbringt sie viel Zeit bei ihren Großeltern, weil ihre Mutter sich nicht kümmern kann oder will. Seit dem Tod des Bruders will ihre Mutter dann auch keinen Kontakt mehr zu ihr.

Meine Mutter: Eine Frau, die mich und meinen Zwillingsbruder aufzieht, so gut sie kann und so, als wären wir schuld an ihrem Leben, schuld daran, dass sie nie wegkommt aus dem verfluchten Scheißstaat, womit sie mal die DDR und mal die BRD meint.

S. 42

Gegen Ende des Buches treffen sich Mutter und Tocher noch ein einziges Mal in der Gegenwart. Die Mutter redet davon für immer abzutauchen und zu verschwinden. Ihre Vergangenheit bleibt allerdings verworren, war sie wirklich im Gefängnis und in einer psychiatrischen Einrichtung oder hat sie die ganze Zeit zurückgezogen im Wald gelebt? Die Erzählstimme macht hier deutlich, dass nicht alles Geschriebene wahr ist. Für die Tochter ist klar, sie wird ihre Mutter nie vollständig kennenlernen, sich nie trauen, ihr all die Fragen zu stellen, die ihr auf den Lippen liegen. Sie muss irgendwie damit abschließen und ihre eigene Familie gründen.

WOW!

Die vielen problematischen Themen (Tod, Angst, Rassismus, Herkunft, Identität) zusammen mit dem ungewöhnlichen Erzähl- und Schreibstil sind beim Lesen alle gleichzeitig auf mich eingeprasselt, dass ich irgendwann dachte: Wow, sowas Außergewöhnliches habe ich schon lange nicht mehr gelesen! Ich finde es toll, dass Romane auch mal komplett anders aufgebaut sind, nicht so geradlinig, und dass sie ihre ganze eigene Sprache haben. Natürlich bedeutet diese Tatsache beim Lesen auch, dass die eine oder andere Stelle vielleicht auch mal etwas anstrengender zu lesen ist oder nicht sofort Sinn ergibt. Aber am Ende läuft alles zusammen und hinterlässt bei mir einen harmonischen Gesamteindruck. Ich denke fast, ich sollte das Buch noch einmal lesen, weil ich dann viele Textstellen vielleicht nochmal ganz anders wahrnehmen würde. Vielleicht mach ich das sogar, wenn ich die Zeit finde! Olivia Wenzel ist zurecht mit “1000 serpentinen angst” für den Deutschen Buchpreis nominiert worden. Zu schade, dass sie nun nicht auf der Shortlist steht.

Über Olivia Wenzel

Autorinnen, die mein Jahrgang (1985!) sind, haben bei mir per se schon einen Pluspunkt 😉 Olivia Wenzel schrieb bisher Theatertexte und Prosa und macht auch noch Musik. “1000 serpentinen angst” ist ihr erster Roman. Was sie selbst über ihr Buch zu sagen hat, könnt ihr ganz gut in diesem kurzen Video in der BR Mediathek erfahren:

https://www.br.de/mediathek/video/was-ich-zu-meinem-buch-noch-sagen-wollte-olivia-wenzel-av:5ecd1288bc42e40014d207e8

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