Jede*r kennt Die Farbe Lila. Aber Alice Walker hat noch so viel mehr geschrieben – und ebenso kraftvoll.
Tashi, eine Figur, die in Die Farbe Lila nur kurz auftauchte, bekommt in Sie hüten das Geheimnis des Glücks ihre eigene Stimme. Und was für eine Stimme das ist.
Tashi – später Evelyn – wächst in einem afrikanischen Dorf auf, entscheidet sich als junge Frau für eine traditionelle Beschneidung, obwohl sie längst in einer westlichen Welt lebt. Aus dieser Entscheidung erwächst ein tiefes inneres Zerreißen, das Walker mit großer literarischer Wucht beschreibt. Dieses Buch hat mich wirklich getroffen. Es erzählt vom Trauma, von kultureller Zugehörigkeit, Schmerz, psychischer Erkrankung – aber auch von Überleben, Würde und der komplizierten Suche nach Glück.
Die Erzählweise ist vielstimmig: Tashi selbst, ihr Mann Adam, ihr Sohn, Freund:innen, Psychiater:innen – alle kommen zu Wort und tragen Puzzlestücke bei. Es gibt viele Zeitsprünge, das Buch ist episodenhaft aufgebaut – nicht immer leicht zu folgen, aber in seiner Struktur so sinnhaft wie die Geschichte selbst: fragmentiert, gebrochen, vielschichtig.
Was dieses Buch so kraftvoll macht, ist, wie offen es über die Unterdrückung von Frauen spricht – physisch, psychisch, systemisch. Walker zeigt, wie tief patriarchale Gewalt in Kulturen eingebettet ist – nicht nur in traditionellen Strukturen, sondern auch in modernen Gesellschaften. Tashis Beschneidung wird nicht als isoliertes kulturelles Phänomen dargestellt, sondern als Symbol für die weltweite Kontrolle über weibliche Körper.
Auch die männlichen Figuren im Buch sind Teil dieser Auseinandersetzung: selbst die wohlmeinenden Männer scheitern oft daran, Tashi wirklich zu sehen, geschweige denn ihr Leid zu verstehen. Es ist ein Roman über das Schweigen. Über das Nicht-Hinhören. Über den Versuch, weibliches Leiden kleinzureden – und über die zerstörerische Kraft dieses kollektiven Wegschauens



