2014 ist „Das achte Leben (für Brilka)“ bereits erschienen und erst 2021 komme ich dazu, dieses sagenhaft einmalige Buch zu lesen. Aber das ist ok, denn bei 1275 Seiten brauche ich auch sehr viel Zeit und Muse und jetzt war der richtige Moment dafür da (dank Corona, aber nicht nur ;)).
Nun kann ich das Buch stolz in meinem Buchregal neben den „Buddenbrooks“, „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ einreihen, denn da gehört es für mich hin! Warum? Nicht nur, weil es ein dicker Schinken ist, sondern weil die Familiengeschichte, die sich über 100 Jahre spannt, genauso spannend, tragisch und schön ist.
100 Jahre einer georgischen Familie
Das Familienepos beginnt mit Stasia Jaschi, die im Jahr 1900 als Tochter eines wohlhabenden Schokoladenfabrikanten in Georgien geboren wird. Ihr großer Traum, Baletttänzerin in Paris zu werden, wird durch die kommunistische Revolution unmöglich gemacht. Auch die Liebe zu ihrem schönen Soldaten, den sie viel zu jung heiratet, wird davon zerstört. Ihr bleibt nur die Phantasie zum Überleben. Bei der Erziehung ihrer Kinder Kostja (*1921) und Kitty (*1924) steht ihr zum Glück ihre wunderschöne, jüngere Schwester Christine zur Seite. Sie hat einen reichen und einflussreichen Politiker geheiratet und die Familie in ihre Villa in Georigens Hauptstadt aufgenommen.
Aber auch Christines Geschichte ist voll Leid, Ihr Kinderwunsch bleibt unerfüllt. Durch ihre atemberaubende Schönheit fällt sie leider dem mächtigsten Mann des Landes zum Opfer und bezahlt dies mit einem schlimmen Unfall. Die nachkommenden Generationen haben es nicht leichter und werden ebenfalls stark von den politischen Turbulenzen der Sowjetunion geprägt.
8 Kapitel = 8 Leben
Der Roman ist in acht Kapitel unterteilt, jedes stellt die Lebensgeschichte eines der Familienmitglieder in den Mittelpunkt:
Kapitel 1: Stasia (*1900)
Kapitel 2: Christine (*1907), Stasias Schwester
Kapitel 3: Kostja (*1921), Stasias Sohn, der eine fragwürdige, aber steile Karriere in der Marine und später in der Politik hinlegt
Kapitel 4: Kitty (*1924), Stasias Tochter, die ins Exil nach London muss und dort eine weltbekannte Sängerin wird. Dadurch beeinflusst sie das Leben ihrer Nichte und (Ur-)Groß-Nichten stark.
Kapitel 5: Elene (*1953), Kostjas Tochter
Kapitel 6: Daria (*1970), Elenes erste Tochter
Kapitel 7: Niza (*1973), Elenes zweite Tochter und die Erzählerin im Roman
Kapitel 8: Brilka (*1993), Darias Tochter, ihre Seiten bleiben leer, da hier die Erzählung in der Gegenwart angekommen ist.
Meine persönliche Meinung
Mich hat das Buch tief beeindruckt, weil es so viele Schicksale miteinander verbindet, Es wird nicht nur das Leben und die Beziehung von ein oder zwei Personen geschildert, sondern zeigt, wie Individuen von der Geschichte ihrer Vorfahren geprägt werden. Schön fand ich das magische Element des Fluchs, der angeblich auf dem Geheimrezept der Schokolade liegt. Jedes Familienmitglied wird von dem unwiderstehlichen Duft der Schokolade angezogen und probiert sie. Da nach dem Genuss der Schokolade immer schlimme Dinge geschehen, glauben Stasia und ihr Vater, der Schokoladenfabrikant, an einen Familienfluch. Nur Brilka ist am Ende die Auserwählte, die diesem Drang widerstehen und damit den Bann brechen kann. Ich liebe ja den magischen Realismus in der Literatur und finde schön, dass er durch dieses Element miteingeflossen ist.
Schockiert hat mich immer wieder die grausame Realität und die Gewalt, die fast jedes Familienmitglied zu spüren bekommt. Es gibt nicht eine dauerhaft glückliche Beziehung. Von Krieg, Folter, Vergewaltigung, Drogensucht bis zu Mord sind sämtliche Gräueltäten und Abgründe vertreten. Da musste ich mir echt an einigen Stellen die Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Es ist definitiv keine seichte Abendunterhaltung. Warum sollte ich euch also so einen deprimierenden Roman zum Lesen empfehlen? Weil es zeigt, wie Menschen auch unter den widrigsten Umständen überleben und wie die gescheiterten Schicksale die überlebenden Nachkommen stärker machen. Die Erzählerin Niza und ihre Nichte Brilka haben am Ende die Chance über sich hinauszuwachsen, ihr eigenen Stärken zu begreifen, ihre Leben in die Hand zu nehmen und etwas Gutes daraus zu machen. Die Hoffnung ist da, dass das Leid vielleicht endlich überwunden werden kann. Und dafür lohnt es sich die 1275 Seiten durchzuhalten!