Lesetipp des Monats: Der Besucher

Eckdaten zum Autor:

György Konrád zählt zu den bedeutendsten und einflussreichsten Schriftstellern Ungarns. Er wurde am 2. April 1933 in Debrecen als Sohn einer jüdischen Familie in Ungarn geboren. Dort entging nur knapp den Nationalsozialisten und einer Inhaftierung in Auschwitz. Die Familie floh nach Budapest zu Verwandten. Diese Ereignisse beschreibt Konrád in seinen Büchern „Heimkehr“ und „Glück“. Er studierte Literatur, Soziologie und Psychologie. Danach arbeitete er als Jugendschutzinspektor für die Vormundschaftsbehörde eines Budapester Stadtbezirks. Diese Erlebnisse wiederum beschreibt Konrád in seinem Roman „Der Besucher“. Schnell zählte er wegen seiner kritischen Äußerungen über die ungarische Gesellschaft als Dissident. 1974 wurde er verhaftet und erhielt 1978 ein Publikationsverbot, das erst 1989 aufgehoben wurde. Konrád wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1991). György Konrád starb am 13. September 2019 in Budapest

Wichtigste und bekannteste Werke:

  • Der Besucher, 1969
  • Der Stadtgründer, 1975
  • Heimkehr, 1988
  • Der Nachlass, 1999

Inhalt:

In „Der Besucher“ schildert György Konrád den Arbeitsalltag eines Fürsorgebeamten in Budapest. Über Rückblicke und Erinnerungen erfahren wir bereits über andere zahlreiche Fälle, die der Mann betreuen musste. Seine Aufgabe ist es, überforderte Eltern zu kontrollieren. Die einfachste Lösung ist immer wieder: Die Kinder ins Heim stecken. Oder die Eltern unter genauere Beobachtung stellen. An diesem Tag führt ihn sein Weg zu einer Familie, in der die verzweifelten Eltern sich umgebracht haben. Der gehandicapte Sohn ist allein in der Wohnung zurückgeblieben. Die Nachbarn beschwerten sich ständig über Lärm und Gestank.

Am Nachmittag müßte ich ein schwachsinniges Kind in die Anstalt bringen. Die Eltern – Dr. Endre Bandula und seine Frau, geborene Borbála Cséfalvay – hatten sich vorgestern vergiftet. Sie lagen unter einer Bettdecke ohne Bezug, als Bett diente ein Drahtgeflecht, das sie auf Beinen aus Ziegeln aufgestützt und mit Lumpen bedeckt hatten. […] Ihr nackter, behaarter, fünfjähriger Sohn kauerte in seinem von Fäkalien verschmierten Bett“

Doch an diesem Tag läuft nicht alles nach Plan. Statt den Jungen in eine Anstalt einzuweisen, beschließt der Beamte zu bleiben und sich um das Kind zu kümmern. Der Besucher wechselt die Perspektive und ist nun mittendrin in der verzweifelten Situation, aus der die Eltern nur noch den Suizid als Ausweg sahen. Aus einem Impuls lässt der Beamte seine Familie und seinen Beruf zurück. Aber er muss schnell feststellen: Dieses Leben ist alles andere als einfach. Egal, was er versucht, der Junge lässt sich nicht bändigen. Stattdessen beschweren sich die Nachbarn erneut. So steht bald der Vertretungsbeamte auf der Schwelle und droht seinem Kollegen, dass er in eine geschlossene Anstalt kommt, wenn er nicht sein geregeltes Leben wiederaufnimmt.

Unsere Meinung:

György Konrad hat mit seinem Erstlingswerk „Der Besucher“ einen bemerkenswertes Buch vorgelegt, das nach seinem Erscheinen für viel Aufregung sorgte. Kein Wunder, dass die Regierung nicht happy mit ihm war. Denn der Roman zeigt ganz deutlich, wie das System mit den Schwachen und Hilflosen umgeht. Denn der Beamte schildert seine Fälle mit so vielen traurigen, brutalen und ungeschönten Details, dass wir fast der Meinung sind, in seinen Akten zu lesen. Distanziert und gefühllos kommt dieser Beamte daher. Er macht schließlich seinen Dienst nach Vorschrift und lässt seine Besuche bei seinen Pflegefällen nicht an sich herankommen. Bis zu eben jenem Tag.

Der Seitenwechsel des Protagonisten ist der Höhepunkt der kurzen Erzählung. Mit einem Mal ist die grausige Realität, die diese Familien durchmachen nicht mehr durch seinen Schreibtisch von ihm entfernt. Stattdessen ist er der harten Welt ausgesetzt, als er mit seinem Klienten im Dreck lebt. Und als der Kollege ihm den Jungen wegnehmen will, hört man plötzlich die gleichen Entschuldigungen und Beschwichtigungsversuche aus dem Mund des einstigen Besuchers, die zuvor von den Eltern der anderen Kinder kamen. Fast erleidet er einen Nervenzusammenbruch. Trotzdem springt er schnell wieder zurück in die altbekannten Muster. Trotz seiner Erfahrung ändert er nichts. Er bleibt eben doch nur ein Besucher. Jemand der eigentlich helfen müsste. Aber es bleibt eben bei diesem: „Eigentlich müsste ich ja“.

Für den Leser ist dieser kurze Roman harter Tobak. Die Geschichte gleich etwas einem Unfall, bei dem man nicht weggucken kann. Verstörend. Bedrückend. Niederschmetternd ist diese Geschichte. Und so lassen sich die nicht mal 200 Seiten gar nicht so schnell weglesen wie gedacht. Denn immer wieder braucht man Pausen, um die Schilderungen zu verarbeiten. Die Geschichte kommt ganz einfach daher mit ihren wenigen Seiten, ist aber vielschichtig und sicher nicht leichtfertig. Deshalb ist es wohl auch eher ein Buch für Literaturliebhaber, Fans komplexer Bewusstseinsromane und Fans ungarischer Schriftsteller zu empfehlen.

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