Dom Casmurro ist ein fieses Buch – denn man weiß nie genau, ob man seinem Protagonisten trauen kann oder nicht. Der alte Bento, alias Dom Casmurro (ein Spitzname, der in etwas Herr Griesgram bedeutet), blickt in dieser Geschichte auf sein Leben zurück, nimmt den Leser mit in seine Kindheit, erzählt wie er aufgewachsen ist und seine große Liebe Capitu gefunden hat bzw. um sie gekämpft hat.
Capitu ist das Nachbarsmädchen in das Bento sich schon als Junge verliebt. Doch Bentos Mutter hat ein Gelübte abgelegt: Ihr Sohn soll Priester werden. Also müssen die beiden ihre Liebe verbergen, sich zu heimlichen Stelldicheins treffen und versuchen, die Mutter doch noch von diesem Gedanken abzubringen, damit Bento und Capitu doch noch heiraten können. Natürlich finden die Liebenden Mittel und Wege, um doch noch zusammenzufinden. Klingt zunächst wie eine seichte Liebesgeschichte. Doch dann überkommen Bento Zweifel: Ist Capitu wirklich die liebende Ehefrau, die sie vorgibt zu sein? Oder belügt und betrügt sie ihren Ehemann etwa?
Mit Bentos Unsicherheit kommt aber auch der Leser ins Grübeln. Kann man diesem mürrischen, alten Erzähler wirklich trauen? Berichtet er die Wahrheit? Oder ist diese Geschichte nur seine Art, sich, sein Leben und seine Entscheidungen vor anderen zu rechtfertigen? Ist Capitu wirklich so berechnend? Oder ist das nur die Perspektive eines verbitterten Mannes, der sein perfektes Leben durch seine Eifersucht verloren hat?
Das eben ist die Kunst an Machado de Assis‘ Erzählstil – Seitenlang lässt er uns Leser glauben, dass dies eine harmlose Geschichte ist, verliert sich in detailverliebten Beschreibungen – bis wir schon fast zu tief in der literarischen Falle stecken und dem alten, einsamen Mann einfach alles glauben wollen. Noch dazu wird der Leser direkt angesprochen, gebeten, doch die Lücken in der Erinnerung eines alten Mannes nicht böse zu nehmen. Das könne ja schließlich mal passieren. Und man möge das Buch doch deswegen nicht aus der Hand legen.
Und dann sind da noch die gesellschaftskritische Aspekte, die ein ungeschulter Leser, der sich in der Historie Brasiliens nicht so gut auskennt (so wie ich!), vielleicht beim ersten Lesen gar nicht so genau wahrnimmt. Dabei hilft allerdings das knackig geschriebene Nachwort von Kersten Knipp, die darin einen Crashkurs der brasilianischen Geschichte verpackt. So wird schnell deutlich, dass Dom Casmurro auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Brasilien gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeht, auf den Einbruch der Moderne, der viele Bewohner mit einer Sehnsucht nach dem Altbewährten zurücklässt, so wie sich auch Dom Casmurro am Ende seines Lebens nach dem Altbewährten seiner Jugend zurücksehnt.
Zugegeben, zunächst kommt die Erzählung etwas schleppend in Fahrt. Detailliert werden die glücklichen Kindheitstage beschrieben. Erst auf den letzten 50 Seiten zerbricht diese wundervolle Welt, die nur durch die rosarote Brille gesehen wird. So sehr, dass man nach dem ersten Lesen eigentlich sofort wieder an den Anfang zurück will, um zu prüfen, ob man denn jetzt wirklich dem Charme des alten Mannes erlegen ist? Oder ob es wirklich Anzeichen für Capitus Untreue gibt. Mein Urteil daher: Gemein – und gleichzeitig genial!
Vielen Dank an den Manesse Verlag für das Rezensionsexemplar!